Wir haben bereits darüber berichtet, dass wir als der heutige Sportverein den Betroffenen von damals bei dem Prozess der Aufarbeitung zur Seite stehen. So eine Aufarbeitung verlangt allen im Prozess Beteiligten viel ab.
Wir haben Marie gebeten in ihren eigenen Worten diesen Prozess wiederzugeben. Vielen Dank, Marie dass wir das hier veröffentlichen dürfen.
Lest nun im folgenden den Prozess der Aufarbeitung aus der direkten Sicht einer Betroffenen.
Nach dem Erscheinen des Spiegelartikels am 9.10.2020 und dem darauffolgenden Hearing vom 13.10.2020 begann für mich der Aufarbeitungsprozess noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive.
Ich bekam viele Anfragen, von verschiedensten Stellen, welche über mich und meine Geschichte berichten wollten. Die Anfragen stiegen mir zu Kopf, da ich es nicht gewohnt war, so in der Öffentlichkeit zu stehen.
In Rücksprache mit meiner Pressesprecherin fand ich mich aber immer mehr zurecht und wusste, mit wem ich gerne zusammenarbeiten wollte und mit wem nicht. Unter anderem kam es zu einer Anfrage / Kontaktaufnahme durch Angelika Ribler (Jugend- und Sportpolitik, Referatsleiterin Sportjugend Hessen im Landessportbund Hessen e.V. ) welche mit meinem früheren Verein, dem TV Gladenbach, zusammenarbeitet, da dieser am Modellprojekt „Kindeswohl im Sport – Schützen/Fördern/Beteiligen in Sportkreisen und Vereinen“ teilnimmt.
Ich freute mich sehr über die Kontaktaufnahme und auf die Zusammenarbeit mit dem Verein. Mir war es von Anfang an nie darum gegangen den Verein oder dessen Mitglieder bloßzustellen und gerade deshalb war mir die Anfrage sehr wichtig. Ich möchte den Verein mit meiner Entscheidung dahingehend unterstützen das was damals passiert ist aufzuarbeiten, Verantwortung zu übernehmen und vor allem daraus zu lernen.
Ich wusste nicht genau, auf welchem Stand der Verein zu diesem Zeitpunkt war, aber ich wusste, dass es zwei Kindesschutzbeauftragte gab und einer von ihnen mein Bruder Ben ist.
Mit Angelika telefonierte ich zuerst, bis wir ein virtuelles Treffen mit noch einigen anderen Teilnehmern ausmachten. Zu uns beiden kamen Christa Duwe, welche Mitglied im TV Gladenbach und seit 2019 im Vorstand tätig ist, Ben Dinkel und Nadine Rohrbach welche als Kindesschutzbeauftragte seit 2019 tätig sind und Ann-Kristin Pieper welche im Bereich Soziale Kompetenzen und Erziehung im Sport als Referentin -wie Angelika Ribler- in der Sportjugend Hessen tätig ist.
Bei dem ersten Treffen ging es nach der Vorstellung um eine Zielsetzung für unsere Zusammenarbeit. Was wollten wir mit diesen Treffen erreichen? Wie kann der TV Gladenbach davon profitieren und gleichzeitig Vorbild für viele andere Vereine sein? Und wie schafft man es, dass dieses wichtige Thema nicht mehr tabuisiert wird.
Wir fingen von ganz vorne an. Jeder erzählte das, was er bereits wusste, wobei die meisten erst letztes Jahr davon durch den Spiegelartikel bzw. das Hearing erfahren hatten. Ich erzählte, wie es damals zu dem Vorfall gekommen ist, wie dieser im Verein und in der Familie besprochen wurde und wie es danach weiterging. In der Gruppe stieß ich auf sehr viel Verständnis, Einfühlungsvermögen und vor allem aber den wirklichen ernsthaften Willen etwas zu ändern. Dadurch fühlte ich mich in der Gruppe ernst genommen und in meiner Aufgabe bestätigt und unterstützt.
Beeindruckend war im Verlauf der Gespräche, dass viele neue Erkenntnisse zu Tage kamen, was wieder zeigte, wie wichtig es ist in den Austausch zu gehen, um jeden Standpunkt verstehen zu können und die Zusammenarbeit zu fördern. Bei einem der Treffen war auch Michaelo Walter dabei, welcher heute den Vorsitz des Vereins innehat und bereits damals Abteilungsleiter im Judo, aber auch mein Trainer war.
Zum Zeitpunkt des Vorfalls war ich 13 und ich bin sehr dankbar, das ganze Geschehnis aus den Perspektiven von Außenstehenden zu sehen. Somit konnte ich den Prozess und auch das Handeln von damals besser verstehen. Ich denke, selbst wenn man es mir in dem Alter von 13 Jahren so erklärt/mitgeteilt hätte wie heute, bin ich mir nicht sicher was es bewirkt hätte, denn ich denke nicht, dass ich damals bereits das Ausmaß der Situation verstanden hätte.
Ich bin froh, die Sichtweise der beiden Kindesschutzbeauftragen nun zu kennen, aber auch die des Vorstands und was der Artikel bei denjenigen ausgelöst hat. Ich bin froh, dass Angelika und Ann Kristin dabei sind, um dem Gespräch Struktur zu geben, aber auch um es als «Außenstehende» aus einer neutralen Sichtweise zu betrachten, die unentbehrlich ist.
Unsere Treffen und auch die Planung bzw. Umsetzung der Ziele steht noch am Anfang und wir sind stets in Kontakt. Eines der Ziele ist es ein persönliches Treffen durchführen zu können, sobald es die aktuelle Corona-Pandemie wieder zulassen sollte, aber auch da sind wir zuversichtlich.
Ich bin sehr froh über diese Zusammenarbeit und dass ich die Chance habe, in dem Verein, wo ich damals den Missbrauch erlitten habe, diesen Prozess gemeinsam aufarbeiten zu können und damit anderen Vereinen ein Vorbild sein zu können, aber auch um denjenigen, welche ähnliches erlebt haben wie ich, zu zeigen «ihr seid damit nicht allein!»
Eine Übersicht zum Thema Kindeswohl beim TVG findest du hier.